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Deutscher Botschafter im „arabischen Frühling“

Dr. Horst-Wolfram Kerll promovierte 1977 an der Universität Freiburg in Rechtswissenschaften, bevor er eine Diplomatenlaufbahn im deutschen Auswärtigen Amt begann. Als deutscher Botschafter in Tunesien erlebte er vor einem Jahr die politische Revolution im Land aus nächster Nähe. Im Interview mit Alumni Freiburg spricht der 65-Jährige über die „bewegendste Zeit seines Lebens“.

dr. horst welfram kerll
Als Botschafter repräsentierte Dr. Horst-Wolfram Kerll in zahlreichen Ländern die Bundesrepublik Deutschland. In Tunesien erlebte er revolutionäre Zeiten.

Newsletter: „Sie stammen aus dem niedersächsischen Goslar am Harz. Warum haben Sie sich 1968 für ein Studium der Rechts-, Politik- und Wirtschaftswissenschaften in Freiburg entschieden?“

Dr. Kerll: „Jura schien mir als Basis-Studium besonders geeignet, um mir möglichst viele Optionen offen zu halten. Für Freiburg entschied ich mich dann, da es dort noch möglich war, parallel während der Referendarzeit Politikwissenschaft zu studieren, mit dem Magisterabschluss bei Professor Jäger und bei Professor Jescheck am Max-Planck-Institut im internationalen Strafrecht zu promovieren.
Zugegebenermaßen war es auch die geographische Lage mit der Nähe zu Skipisten im Schwarzwald und in den Alpen, das Klima, die wunderbare Landschaft, die netten Badener und Speis und Trank, die mich anlockten!“

Newsletter: „Welche Erinnerungen verbinden Sie mit der Zeit im Breisgau?“

Dr. Kerll: „Es waren für meine Frau und mich sicherlich mit die schönsten Jahre unseres Lebens, und wir bezeichnen uns immer noch als überzeugte „Wahlbadener“ mit einem bis heute festen Stammtisch bester Freunde, was gerade jetzt aus der Rückschau auf unser späteres Zigeunerleben so wichtig war und bleibt.“

Newsletter: Ihre diplomatischen Auslands-Stationen führten Sie über Budapest, Ankara, Genf und Lissabon bis nach Asunción in Paraguay und zuletzt nach Tunis. Welcher Stadt verdanken Sie besonders prägende Erlebnisse?

Dr. Kerll: „Alle Posten hatten zweifellos ihren eigenen Reiz, einschließlich jener im Inland in Bonn und Berlin. Wenn ich drei Auslandsposten hervorheben sollte, so wären es wohl zunächst Budapest, nicht nur weil es eine so wunderbare Stadt ist, sondern weil es der erste Auslandsposten war, als zweites Lissabon mit seinem ganz besonderen Licht und Charme, wo unsere Kinder auch Abitur machten und natürlich nun Tunis, wo wir zunächst, ab 2007, das repressive „ancien régime“ erlebten und dann die Revolution 2010/2011 und die schwierige, aber spannende Zeit danach, in der wir, wie schon früher, den Demokratieprozess nach Kräften unterstützen.“

Newsletter: „Seit Sie im Sommer 2007 die Leitung der Deutschen Botschaft in Tunis übernommen haben, hat Ihr Gastland in der Tat erhebliche politische Veränderungen erfahren. Wie haben Sie die im Dezember 2010 begonnene „Jasminrevolution“ erlebt?“

dr. horst welfram kerll schreibtischbild
Dieses Bild ist für Dr. Horst-Wolfram Kerll eine protokollarisch etwas "politisch unkorrekte" aber ausdrucksvolle und aussagereiche Kollage. Denn er überreicht anstatt dem ehemaligen Präsidenten dem arbeitslosen Mohamed Bouazizi sein Beglaubigungsschreiben Mohamed Bouazizi verbrannte sich am 17.12.2010 selbst und gab damit den letzten Auslöser für die tunesische Revolution.

Dr. Kerll: „Wir haben sie "hautnah" erlebt, im wahrsten Sinne des Wortes. Dazu gehören Demonstrationen, die wir beobachteten, Straßensperren und -kontrollen durch Militär, Polizei und Milizen, bis hin zu Schießereien um die Residenz ohne Sicherheitskräfte. Wir alle arbeiteten auch an den Revolutionstagen weiter, oft sechzehn Stunden oder mehr, um unseren Aufgaben der Berichterstattung, der Hilfe für deutsche Staatsangehörige und auch deutsche Firmen vor Ort nachzukommen. Die Unterdrückung im „ancien régime“ mit gravierenden, systematischen und auch dauerhaften Menschenrechtsverletzungen, sowie die Korruption und Vetternwirtschaft waren für viele unerträglich geworden. Das Volk, vor allem die Jugend, und darunter viele Frauen, wollten ihre Würde wiedererlangen, vor allem Freiheit und echte Demokratie, die es leider bis dahin in Tunesien nie gegeben hatte. Obwohl es etwa 200 Tote im ganzen Land zu beklagen gab, war es im Vergleich zu anderen Revolutionen in der Umgebung, wie früher in Algerien und später, dem Beispiel Tunesien folgend, in Libyen und Ägypten, eine überwiegend friedliche Revolution. Oft wird in Tunesien der Vergleich zum „Mauerfall“ und der Deutschen Wende gezogen. Meine Familie und ich zollen dem tunesischen Volk höchsten Respekt für seinen Mut und auch die Umsicht während der Revolution und in der schwierigen Zeit danach. Wir selbst erlebten beruflich und persönlich wohl die bewegendste Zeit unseres Lebens.“

Newsletter: „Die Proteste verliefen, wie Sie sagten, überwiegend friedlich. Hatten Sie in Zeiten des Ausnahmezustands dennoch Angst um Ihre Sicherheit?“

Dr. Kerll: „Natürlich galten die ersten Maßnahmen der Sicherheit des Personals und ihrer Familien, aber wir hatten ein hervorragendes Team – niemand wollte gehen, alle packten mit an. Einige Familien zogen es mit guten Gründen vor, die, wie auch unsere Residenz plötzlich unbewachten Häuser zu verlassen und in der Botschaft zu kampieren, wo Sicherheitskräfte weiter auf Posten waren, verstärkt durch die GSG 9 (Anti-Terroreinheit Grenzschutzgruppe 9). Man machte sich natürlich Sorgen, vor allem um jene, die in der Nähe der Häuser der von vielen so verhassten Familie der Frau des Präsidenten, Leila Trabelsi, wohnten, denn diese wurden in den ersten Tagen und Nächten gestürmt, geplündert und zum Teil völlig abgebrannt. Solche Vorgänge beobachteten wir auch von unserer Terrasse aus und fragten uns, ob wir die nächsten auf der Liste waren. Ganz ohne Angst waren die Tage – und vor allem die Nächte – nach dem 14. Januar 2011, dem Datum der Flucht des Präsidenten, für viele sicherlich nicht.“

Newsletter: „Im vergangenen Oktober fanden in Tunis schließlich die ersten freien Wahlen zu einer Verfassung gebenden Versammlung statt, aus der die umstrittene islamische Partei „En-Nahda“ als offizieller Sieger hervorging. Wie bewerten Sie die gegenwärtige politische Lage im Land?“

Dr. Kerll: „Es war sicher der zweite und freudige Höhepunkt für uns alle in Tunis, die ersten freien, fairen und demokratischen Wahlen miterleben zu können. Das Ergebnis gilt es zu respektieren. Der Diskurs der „Ennahdhaouis" ist, wenn auch religiös fundiert, so doch überwiegend noch gemäßigt und expressis verbis demokratieorientiert – anders als etwa bei Salafisten und radikalen Parteien in anderen Ländern. Allerdings müssen nun schönen Worten auch schnelle Taten gegen Kriminelle folgen. Tunesien ist noch in einer postrevolutionären und etwas unsicheren Phase, aber die politische Tendenz bewerten wir grundsätzlich positiv, die Wirtschaft stabilisiert sich, der Tourismus nimmt mit gutem Grund erheblich zu, manche Agenturen melden, dass die Zahlen von 2010 noch in diesem Jahr wieder erreicht werden.“

Newsletter: „Die Unruhen in Tunesien gelten als Auslöser für eine Serie von Aufständen und Revolutionen in benachbarten arabischen Staaten. Mit welchen Gefühlen beobachten Sie die Entwicklungen im Nahen Osten und Nordafrika?“

Dr. Kerll: „Es ist eine Tatsache, dass die grundsätzlich so friedlichen und keinesfalls revolutionären Tunesier durch ihren Freiheitskampf ähnliche Bewegungen in Libyen, Ägypten, in anderen Golfstaaten und auch in Syrien in Gang gesetzt haben. Viel wird nun für Tunesien und auch die gesamte Region davon abhängen, ob die Erfolge dieser Befreiung und Demokratisierung auch gesichert werden können. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass die tunesische Übergangsregierung viel konsequenter gegen Extremisten und gewaltbereite Salafisten vorgeht, die Demokratie und Rechtsstaat bekämpfen wollen. Betreffend Tunesien bin ich hinsichtlich der baldigen Entwicklung zu einem demokratischen Rechtsstaat zuversichtlich, im Hinblick auf andere Länder allerdings eher skeptischer. Leider gilt dies für mich auch im Hinblick auf den Nahostfriedensprozess.“

Newsletter: „Deutschland ist der drittgrößte Handelspartner Tunesiens. Wie gestalten sich die bilateralen Beziehungen während des demokratischen Übergangsprozesses?“

Dr. Kerll: „Deutschland war das Land, das gleich nach der Revolution am schnellsten und umfangreichsten den Tunesiern Hilfe angeboten hat auf ihrem Weg zur Demokratie – politisch, wirtschaftlich, kulturell und auch humanitär. Die Bundeskanzlerin rief sofort den interimistischen Premierminister an, der Bundesaußenminister reiste noch Anfang 2011 nach Tunis. Das Auswärtige Amt erstellte zusammen mit unserer Botschaft ein großes Hilfsprogramm zur unmittelbaren Unterstützung des Landes in allen Bereichen. Bis heute hat übrigens keines der etwa 280 deutschen Unternehmen Tunesien in der schwierigen Zeit verlassen. Die Nachfrage nach intensiverer Zusammenarbeit mit uns ist erheblich gestiegen. Deutschland genießt nun wegen unserer klaren menschenrechtsorientierten Haltung vor, während und nach der Revolution noch einen besseren Ruf als früher, und ich sehe sehr gute Chancen für die weitere Intensivierung unserer bilateralen Beziehungen in allen Bereichen.“

Newsletter: „Viele Deutsche verbinden mit dem nordafrikanischen Staat vor allem ein beliebtes Urlaubsziel. Haben sich die Bedenken der Touristen bezüglich der Sicherheit in Tunesien inzwischen zerstreut?“

Dr. Kerll: „Da sprechen Sie einen sehr wunden Punkt der Perzeption der aktuellen Situation in Tunesien bei vielen Touristen, deutschen Reiseagenturvertretern und auch in deutschen Medien an. Selbst im Landesinneren hat sich die Lage zwischenzeitlich weitgehend stabilisiert, im gesamten Touristengürtel vom äußersten Norden bis in den tiefen Süden war es bis auf wenige Ausnahmen nach der Revolution immer ruhig. Nach unserer Kenntnis hat nicht ein einziger deutscher Tourist Schaden genommen. Wir selbst reisen ungehindert im Lande umher. So kann ich mir etwa für Golfer im Augenblick bei seit Wochen schönem Wetter, leeren Golfplätzen, ohne Abschlagszeit, bei günstigen Tarifen und gut gepflegten Plätzen kein besseres Land vorstellen! Der Spruch „bad news are good news“ gilt für manche Berichterstatter leider auch für Tunesien und richtet großen Schaden an. Einzelne Vorkommnisse werden verallgemeinert, Vergleiche zu Kriminalität in anderen Ländern oder Großstädten einschließlich deutscher erst gar nicht gezogen.
Das tunesische Motto „Invest in democracy, Tunisia the place to be“ ist ungleich überzeugender und hat weit größere Berechtigung!“

Newsletter: „Zwischen Mittelmeer und Sahara hat Tunesien geografisch und kulturell vieles zu bieten. Welche landestypischen Vorzüge haben Sie während Ihrer Amtszeit besonders genossen?“

Dr. Kerll: „Die Vielfalt des Landes ist in der Tat überraschend, wir haben sie sehr genossen und werden es weiter tun: Schnorcheln an der nördlichen Felsenküste, Segeln und Baden an den Stränden bis weit in den Süden, Wandern und Jagen in den Bergen im Norden und Westen, der Besuch so vieler archäologischer Stätten, vor allem der römischen und punischen Zeit und immer wieder die Sahara mit ihren wunderschönen Oasen und Zeltlagern mitten in der Wüste. Dies alles in einem Tag erreichbar, wo findet man das noch?“

Newsletter: „Im Moment bereiten Sie Ihren Umzug nach Berlin vor. Begrüßen Sie die Aussicht auf einen dauerhaften Aufenthalt in Deutschland?“

Dr. Kerll: „Ein gewisser ‚Ruhestand‘ nach dieser hochintensiven Arbeitszeit in Revolution und Postrevolution mit dem laufenden enormen Arbeitsprogramm und dem hohen Besucheraufkommen wird sicher nicht schaden. Ob es ein Übergang von 200 Prozent auf Null werden wird, werden wir sehen, auch inwieweit ich im deutsch-tunesischen Verhältnis noch weiter behilflich sein kann. Aber eines ist klar: Nach so vielen Jahren im Ausland freue ich mich auf die Rückkehr in die Heimat, und es gibt viele Reisen im eigenen Land und in Europa nachzuholen. Und auch wenn nun aus vielerlei Gründen Berlin der Standort wird – Freiburg, das Breisgau und der Schwarzwald bleiben sicher unser bevorzugtes Reiseziel!“

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